Wer ist Isidor?
Isidor ist unser untotes Event-Maskottchen! Vor seinem Ableben war er ein nerdiger kleiner Punkrockfan, der als Kameramann für zweifelhafte Filmperlen sein Lebensunterhalt verdiente. Jetzt, nach seinem Tod, greift er uns ordentlich unter die Arme und stellt euch jedes Jahr ein schaurigschönes Kinoprogramm zusammen. Aber lasst Isidor doch einfach selbst seine Geschichte erzählen!
Meine Geschichte
Mein Name ist Isidor Margarete Klotzkowsky. Ja, ich weiß, das ist ein echt schräger Name. Den habe ich mir natürlich nicht selbst ausgesucht. Diesen liebreizenden Doppelnamen verdanke ich meiner heißgeliebten Großmutter. Da kann man einfach nichts machen. Meine Freunde nennen mich einfach nur „Isi“. Und meine Feinde? Die nennen mich „Mäggie“. Ehrlich gesagt, heiße ich für die meisten Menschen „Mäggie“. Daher fände ich es echt super, wenn du mich „Isi“ nennst.
Aber genug davon. Ihr fragt euch sicherlich, ob es nichts Spannenderes über Isidor zu berichten gibt? Eigentlich nicht. Ich wohne in Haunted City, bin Mitte 20, unsportlich, Punkrock-Fan, Filmnerd und hauptberuflich Kameramann. Ich würde jetzt gerne erzählen, dass ich bei millionenschweren Hollywood-Blockbustern oder wenigstens bei großen deutschen Produktionen hinter der Kamera stehe. Doch leider hat es nur für schlechte B-Movies und noch schlechtere Softpornos gereicht. Mit Perlen, wie The Sperminator, Robocock oder Stoß langsam I-III im Lebenslauf, werde ich wohl auch auf absehbare Zeit in Hollywood keinen Fuß auf den Boden bekommen. Aber genug gejammert. Das alles ist sowieso komplett egal, denn ich bin tot.
Damit wäre meine Lebensgeschichte eigentlich auch schon zu Ende erzählt. Das ist sie auch, denn ich bin ja schließlich tot. Eine Tatsache, die die meisten Betroffenen sicherlich todtraurig stimmen würde, wenn sie nicht schon tot wären. Mich hingegen lässt das Ganze kalt. Ihr versteht? Lässt mich kalt? Kalt wie eine Leiche?
Okay, genug der schlechten Witze. Ich, Isidor Margarete Klotzkowsky, bin also am 23.04.2022 offiziell gestorben. Wie es dazu kam und warum ich nicht metertief unter der Erde liege, das erfahrt ihr jetzt.
Gestorben bin ich an einem relativ gewöhnlichen Samstag. Es stand mal wieder eine nächtliche Sonderschicht hinter der Kamera auf dem Plan, was eigentlich jedes Wochenende der Fall war. Es war kurz vor 19 Uhr und ich hatte bisher den ganzen Tag in meiner Wohnung auf der Couch verbracht. Damit war nun leider Schluss. Drehbeginn war heute auf Punkt 21 Uhr festgelegt. Die Studioräume waren am Tag meist von rentableren Projekten belegt, bei denen man sich nicht traute, die Darsteller mitten in der Nacht zur Arbeit zu zwingen. Bei schlechten Pornos und noch mieseren Trash-Filmen war das natürlich kein Problem. Ihr seht, ich befand mich beruflich auf der Überholspur. Wie auch immer, noch etwa zwei Stunden, bis es „Action“ hieß. Ich stürzte den letzten Schluck meines extrastarken Kaffees herunter, schnappte mir meine Ninja-Turtles-Brotbox, zog die Lederjacke an und verließ meine Wohnung.
Doch ich kam nicht weit. Direkt vor der Wohnungstür lauerte mein Vermieter, Herr Mario Sarotti. Der Tag fing also schon richtig klasse an.
„Herr Klotzkowsky… wie oft soll ich es Ihnen noch sagen…“, schallte es mir entgegen.
Der kleine, dicke Mann war komplett außer sich. Sein speckiger Glatzkopf glänzte rot wie eine Tomate und ich erwartete, dass diese Tomate jeden Moment explodieren würde. Sarotti gestikulierte wild vor meinem Gesicht und brüllte mir seine Anschuldigungen entgegen. Ich verstand kaum ein Wort, da ich viel zu sehr damit beschäftigt war, vor seiner feuchten Aussprache in Deckung zu gehen. Vermutlich ging es wie immer um zu laute Musik und die fällige Miete. Da ich echt knapp in der Zeit war, schob ich Sarotti zur Seite und eilte durch das Treppenhaus davon. Den kleinen dicken Mann hörte ich bis auf die Straße zetern. Das war noch nicht ausgestanden. Jetzt musste ich aber erst mal den Bus erwischen. Der Nächste fuhr erst wieder in einer Stunde und mein Chef würde mir den Kopf abreißen, wenn ich nicht pünktlich zu Drehbeginn hinter der Kamera saß.
Schwitzend und komplett außer Atem stürmte ich im letzten Moment in den Bus. Meinen dürren Körper hatte ich zwar erfolgreich durch die sich schließende Tür gequetscht, doch das Mistteil schnappte nach meinem linken Fuß. Ein heftiger Ruck durchzuckte mich, als meine Bewegung abrupt gestoppt wurde und ich wie ein nasser Sack auf dem klebrigen Fahrzeugboden landete. Die Luft wurde mir schlagartig aus den Lungen gepresst und ich sah kurz Sterne vor den Augen. Nach Atem ringend drehte ich mich langsam auf den Rücken, wischte mir die Strähnen meines grünen Irokesenschnitts aus dem Sichtfeld und sah über mir das grinsende Gesicht des Busfahrers.
„Nich so stürmisch, Meister. Einfach rechtzeitig an der Haltestelle sein, dann musst nich so rennen!“, spottete der Kerl. Die Bustür öffnete sich langsam und gab meinen ledierten Fuß wieder frei.
Ich ignorierte den Sack von Busfahrer einfach und zog mich unbeholfen zurück auf die Beine. Mit hochrotem Kopf humpelte ich den Mittelgang weiter nach hinten, als mich jemand am rechten Arm packte. Erschrocken blickte ich in das Gesicht einer älteren Dame.
„Ich glaube, die gehört Ihnen!“, sprach sie mit mitleidiger Miene. In ihrer Linken hielt sie meine Ninja-Turtles-Brotbox. Ich tastete verwirrt die Taschen meiner Lederjacke ab, aber natürlich war da nichts. Die Brotbox war mir bei meinem Sturz aus der Jacke geflogen. Ich nahm die Box an mich und nuschelte ein gequältes „Danke“.
„Ist eine wirklich schöne Brotbox! Meine kleine Enkelin hat die gleiche“, strahlte mich die Dame wohlwollend an.
Ich nickte nur verlegen und lief weiter nach hinten zur letzten Sitzreihe. Erleichtert ließ ich mich auf die schmuddelige Bank fallen und zog mir den Kopfhörer über den Schädel. Benebelt durch die Klänge meiner Lieblingsbands, vergaß ich schnell diesen wirklich beschissenen Samstag. Auf The Clash, Dead Kennedys, Misfits, Ramones und die Sex Pistols war einfach Verlass! Etwa 20 Minuten später näherten wir uns meiner Zielhaltestelle, also gab ich über einen dieser roten Knöpfe in den Haltestangen das Signal zum Stoppen und positionierte mich an der hinteren Bustür. Da war sie endlich, meine Haltestelle — und schon war sie vorbei. Ungläubig beobachtete ich, wie das Bushäuschen in der Heckscheibe immer kleiner wurde. Der Busfahrer war wie so oft einfach weitergefahren. In der Spiegelung der Frontscheibe meinte ich kurz ein hämisches Grinsen in seinem Gesicht zu erkennen.
„Verdammter Wichser!“, fluchte ich leise in meinen nicht vorhandenen Bart. Nach fünf unendlich langen Minuten hielt der Bus dann doch an einer anderen Haltestelle.
„Schönen Spaziergang, Meister!“, hörte ich den Busfahrer hinter mir lachen. Was für ein Penner!
Ich begab mich also auf den üblichen Fußmarsch durch das Industriegebiet. Ein wenig Glück hatte ich an diesem Morgen scheinbar schon, denn ich lief keinem der Kleinkriminellen und Halunken über den Weg, die in Haunted City ihr Unwesen trieben. Außer meiner Turtles-Brotdose hatte ich ohnehin nie etwas dabei, was diese Kerle mir abknöpfen konnten. Trotzdem war ich froh, diesmal verschont geblieben zu sein, denn wer nichts geben konnte, kassierte in der Regel Prügel. Oder man war verdammt flott zu Fuß unterwegs. Ich war ein ziemlich guter Langstreckenläufer, worauf ich ziemlich stolz war. Jahrelanges Training machte es möglich. Nach etwa 20 Minuten ohne Zwischenfälle kam ich an der Lagerhalle an, in der mein Arbeitgeber seine Studios betrieb. Die Wellblechhalle war sowas wie ein Sinnbild meines Lebens und gleichzeitig das perfekte Gebäude für ein Filmproduktionsunternehmen mit dem Namen Limited Success Production. Windschief, rostig und eigentlich bereit für den Abriss.
Kurz vor 20 Uhr war ich schließlich am Set von „Pumping Iron Zombies – No Brains, No Gains!“. Einer der vernünftigeren Filmproduktionen der letzten Jahre, an denen ich mitwirken durfte! Das überschaubare Drehbuch beschrieb eine Zombieapokalypse, ausgelöst durch übermäßigen Anabolika-Missbrauch. Heute sollte der große Showdown abgedreht werden. Drei Überlebende würden sich zum Ground Zero der Seuche durchschlagen und in einer blutigen Schlacht den Kopf der Zombie-Horde bezwingen. Dazu war in einem kleinen Kellerraum im Gebäudekomplex eine Art Fitnessstudio errichtet worden, in dem das Gemetzel stattfinden sollte. Neben mir waren zunächst nur die Leute vom Licht anwesend, bis einige Minuten später Hector die Bühne betrat.
Hector war ein zwei Meter großer Hüne und spielte den Patienten Zero, also die muskulöse Bienenkönigin unserer Zombies. Aufgepumpt, eingeölt und bekleidet in Feinripp-Unterhemd und Shorts, begann er vor einem großen Wandspiegel zu posieren. Ruckartig wechselte der Bodybuilder die Posen und gab dabei grunzende Geräusche von sich. Das Licht-Team turnte währenddessen um ihn herum und gab sein Bestes, um die Muskelberge möglichst gut in Szene zu setzen und damit vom billigen Zombie-Make-up abzulenken. Mit der Schminke im Gesicht sah Hector wirklich mehr als seltsam aus. Eine Art untoter Anabolika-Clown. Nur den leichten Schaum vor dem Mund und das Gesabber hatten die Leute aus der Maske ganz ordentlich hinbekommen. Den Rest musste dann wohl die Postproduktion erledigen.
Da wir noch eine gute Stunde bis zum Drehbeginn hatten und eine Mittagspause nicht eingeplant war, wollte ich lieber jetzt etwas essen. Ich setzte mich hinter meine Kamera und kramte die prallgefüllte Turtles-Brotdose heraus. Es gab Hühnerfrikassee und Reis von gestern. Es gab schon die halbe Woche Hühnerfrikassee mit Reis, denn viel mehr konnte ich nicht kochen. Da ich natürlich kein Besteck eingepackt hatte, fing ich an, die Fleischstückchen mit den Fingern aus dem Reis zu fummeln und mir genüsslich einzuverleiben.
Plötzlich schepperte es vor mir so laut, dass ich vor Schreck beinahe erneut meine Turtles-Brotdose fallen gelassen hätte. Erschrocken schaute ich hinter meiner Kamera hervor und sah, wie Hector im Bühnenbild auf mich zukroch. Der südländische Riese war offensichtlich gestolpert und hatte die Hantelbank umgerissen. Irgendwie sah er ziemlich fertig aus. Doch nicht so schlecht das Make-up, dachte ich mir. Und meine Güte, dieser Schaum vor dem Mund war wirklich ganz großes Kino.
Ich weiß noch, wie ich zwischen den Hähnchenstückchen in meinem Mund Folgendes herauspresste: „Allef okay, Hector? Geff dir gut?!“
Natürlich war nichts okay. Aber woher sollte ich das wissen? Hector zog sich unbeholfen auf die Beine und kam mit schlurfenden Schritten auf mich zu. Hier wäre wohl der richtige Moment zur Flucht gewesen. Stattdessen kaute ich weiter auf meinem Hähnchen herum und beobachtete die Performance des Riesen. Etwa einen Meter vor mir blieb Hector schwankend stehen. Mit vollem Mund schmatzte ich ihm meine Begeisterung über seine Zombie-Imitation entgegen: „Geile Performance! Daff mufft du gleich genau fo vor der Kamera machen!“
„Protein!“, grollte es aus dem Mann heraus. Sabber und Schaum tropften ihm aus dem Mund, und mit einem heftigen Ruck riss er mir die Ninja-Turtles-Brotdose aus den Händen.
„Ey, waff foll daff? Daff iff meins! Bifft im Unterschucker?!“, schmatzte ich empört in seine Richtung. Große Fleischbrocken spritzten mir aus dem Mund und blieben auf meinem Shirt kleben. Hector reagierte überhaupt nicht. Stattdessen stocherte er unkoordiniert mit seinen Fingern in der Brotbox herum. Der gekochte Reis flog in alle Richtungen zu Boden.
„Schon gut. Kannft den Reif haben. Fleif ifch eh leer!“, muffelte ich Hector an. Auf Streit war ich auf keinen Fall aus. Erst vor ein paar Wochen hatte Hector am Set von Analstufe Rot das Bühnenbild zertrümmert. Und alles nur, weil der Regisseur kurz vor dem Höhepunkt seiner Szene noch etwas am Licht schrauben wollte. Nein, Hector unterbrach man nicht, wenn er tief in seiner Rolle steckte. Außerdem waren seine Finger so dick wie meine Oberarme. Da zog ich lieber den Kopf ein.
Hector mochte offensichtlich keinen Reis, denn nach kurzem Stochern flog die Dose in hohem Bogen hinter das Bühnenbild. Langsam ging mir sein Verhalten ernsthaft auf den Sack. Doch ich traute mich einfach nicht, etwas zu unternehmen. Der Bodybuilder starrte mich wutschäumend an. Zischend zog er immer wieder Luft durch seine gigantischen Nasenlöcher ein. Er wirkte jetzt wie ein Raubtier, das seine Beute witterte. Hectors Augen zuckten hin und her. Ich spürte förmlich, wie er mich von oben bis unten mit gierigen Blicken musterte.
„Protein!“, dröhnte es wieder aus Hector heraus. Sein riesiger Mund öffnete und schloss sich kontinuierlich, fast so, als ob er die Luft vor sich zerbeißen wollte. Dünne Sabberfäden tropften auf meine Jeanshose. Dann ging alles ganz schnell. Hector packte mit eisernem Griff zu. Ein heftiger Ruck ließ meinen Schädel nach vorne zucken, während mir die Kieferknochen mit aller Kraft auseinandergezogen wurden. Das Letzte, was ich sah, war Hector, wie er den halbzerkauten Hähnchenbrei in sich hineinschaufelte und als Nachtisch mein Gesicht fraß. Dann setzten die vernichtenden Schmerzen ein, und alles wurde schwarz.
„Protein!“, hörte ich Hector ein letztes Mal in der Dunkelheit grunzen, bevor ich endgültig weg war. Der Schmerz wich schlagartig einer wohligen Erleichterung und Müdigkeit. Um mich herum war alles schwarz.
Und wie ich da so in der Dunkelheit herumhing, dachte ich mir:
„Verdammte Axt! Hatten die wirklich echte Zombies für einen Zombiefilm gecastet?! Und war Analstufe Rot dann ein Nekrophilie-Porno gewesen? Echt krank!“
Ihr seht, ich war ernsthaft überrascht von meinem Tod. Warum sonst sollte man sich im Angesicht des eigenen Ablebens solch einen Unfug fragen? Die Verwirrung wich aber recht schnell der bitteren Erkenntnis.
„Scheiße! Bin ich nun tot? Was ist hier los?“
Verwundert schaute ich nach links und nach rechts, doch da war nichts. Einfach nur Schwärze. Aus Berichten im Internet wusste ich, dass da eine Art Tunnel mit Licht sein sollte. Doch bei mir gab es nur Finsternis. War ich also doch nicht gestorben? Ich versuchte, einige Schritte zu laufen, um zu sehen, ob ich diesen Tunnel finden würde. Verpassen wollte ich ihn auf keinen Fall. Wer weiß, wann der Nächste käme? Ob ich tatsächlich lief, wusste ich nicht. Ich sah ja nichts, auch nicht meine Beine. Hatte ich überhaupt noch irgendwelche Extremitäten?
Ich tastete mich von oben bis unten ab. Ohne Erfolg. Nach kurzer Zeit wurde mir langweilig und ich hörte einfach auf damit. Eine kleine Ewigkeit hing ich also lustlos in der Finsternis herum, bis endlich etwas passierte. Schlagartig veränderte sich meine Wahrnehmung und da war er: mein Tunnel! Eine Röhre aus gleißendem Licht schlängelte sich durch die Dunkelheit in meine Richtung.
Ich überlegte noch, ob ich da nun hineingehen sollte oder ob es nicht schlauer wäre, sich davon fernzuhalten. Die Entscheidung wurde mir wenig später allerdings abgenommen, als eine unsichtbare Kraft nach mir griff und mich in das Licht zog.
„Hey, was soll das!“, schrie ich in die Finsternis. Zu hören war natürlich nichts. Ohne Gnade zog es mich weiter in den Tunnel. Die Schwärze war nun vollständig dem grellen Licht gewichen. Nun begann er also, der wilde Ritt auf der Achterbahn Richtung Jenseits. Für mich eher eine Geisterbahn durch ein finsteres Tal aus traumatischen Erlebnissen: die Scheidung meiner Eltern, das Internat, Mobbing, Prügel, Überfälle – und von allen Seiten hörte ich das hinterhältige Getuschel der Mitmenschen in meinem Leben. Dass ein Sterbender im Angesicht des Sensenmanns sein Leben an sich vorbeiziehen sieht, das hatte ich bereits gehört. Sollte meines aber so trist und traurig gewesen sein? Natürlich war bei mir vieles nicht ideal gelaufen, aber unter dem Strich hatte ich immer den Eindruck, dass ich meine Sache ganz ordentlich machte.
Die Flashbacks wurden immer intensiver, bis Panik und Angst von mir Besitz ergriffen. Ich brüllte, schrie und versuchte, die Erinnerungen mit Schlägen zu vertreiben. Doch es gelang mir nicht. Immer neue Traumata prasselten auf mich ein. Mein Schädel schmerzte und irgendwas schien meine Schultern und Arme zu quetschen. Bekam ich hier im Jenseits nun auch noch einen Herzinfarkt? Totaler Quatsch! Und warum spürte ich auf einmal meinen Körper? Dann hörten die Flashbacks schlagartig auf und es wurde dunkel. Langsam beruhigte ich mich, als ich ein leises Knacken und Knarren um mich herum wahrnahm. Es knackte wieder und nach einem dumpfen Krachen erhellten ein paar kleine Lichtstrahlen die Schwärze. Mein Blick klärte sich und über mir sah ich roten Samt und dunkles Eichenholz. Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, was ich da sah.
„Was zur Hölle! Das ist ein Sarg!“
Und tatsächlich, ich starrte auf die Innenseite eines Sargdeckels. Verdammt, hatte man mich fälschlicherweise für tot erklärt und beerdigt? Nun bekam ich richtige Panik! Und zwar die Panik davor, lebendig begraben zu sein. Im Nachhinein war diese Furcht natürlich Quatsch gewesen, da ich ja offensichtlich etwas sehen konnte und damit Licht in den Sarg hineinfand. Trotzdem verspürte ich in dieser Situation Todesangst. Und so hämmerte ich mit voller Wucht meine Fäuste gegen den Sargdeckel über mir. Oder zumindest mit so viel Wucht, wie man in einer beengten Holzkiste eben aufbringen konnte, ohne vorher den Three Inch Punch trainiert zu haben. Zu meinem Erstaunen zerbarst der Deckel mühelos und die Seitenteile meiner letzten Behausung flogen in alle vier Himmelsrichtungen davon. War wahrscheinlich das billigste Kassenmodell, das es auf dem Markt gab.
Ich stieg verwundert aus den Überresten des Sarges. Die Holzsplitter knirschten unter meinen nackten Füßen und als ich mich umblickte, erkannte ich, dass ich mich tatsächlich in einer Leichenhalle befand. Die sterile Kälte des Raumes griff nach mir, aber ich spürte keine Kälte. Stattdessen brannte ein Hunger tief in meinem Inneren, ein bohrendes Verlangen, das jede Faser meines Körpers ergriff.
Es gab keinen Spiegel im Raum, doch als ich an mir herunterblickte, wurde mir leicht übel: Meine Haut hatte eine ungesunde, grünliche Färbung angenommen, fast wie verdorbenes Fleisch. Das Leichentuch, in das man mich gehüllt hatte, hing in Fetzen an meinem Körper herunter. Es war offensichtlich viel zu klein. Man hatte sich wirklich keine große Mühe gemacht, mich für die letzte Ruhe ordentlich zu betten. Allerdings hatte sich untenrum einiges getan, wenn du verstehst, was ich meine! Konnte aber auch am Dämmerlicht liegen. Egal, das gefiel mir auf jeden Fall!
Was mir weniger gefiel, war dieses fiese Stechen in meiner Magengegend. Mein Hunger war wie ein Schmerz, der alles andere überschattete. Doch hier gab es nichts, was ich essen konnte. Nur der Geruch von Desinfektionsmitteln und Formalin stieg in meine Nase. Ich sah mich um. Ein Stahltisch, auf dem mein Sarg in Einzelteilen lag, ein paar Schränke und ein Regal voller Werkzeug. Nichts Essbares. Ich lief zur Tür. Eine massive Stahltür mit einem kleinen Sichtfenster. Verdammt, abgeschlossen.
„Scheiße“, versuchte ich zu brüllen, doch aus meiner Kehle kam nur ein dumpfes Gurgeln. Die Stimmbänder waren irgendwie taub und verweigerten mir den Gehorsam. Ich versuchte es noch einmal, diesmal wütender, aber es war wieder nur ein tiefes, kratzendes Geräusch, als ob ich mit einem rostigen Kehlkopf sprechen würde. Panik kroch in mir hoch. Ich wollte hier raus. Sofort.
Ich begann, an die Tür zu klopfen, erst zaghaft, dann immer heftiger. Vielleicht hörte mich jemand? Doch draußen blieb es still. Niemand kam. Die Verzweiflung wuchs und meine Schläge wurden härter, wütender. Der Hunger bohrte sich in mein Gehirn wie ein Nagel. Ich schlug noch einmal mit aller Kraft gegen die Tür. Zu meiner Verwunderung brach sie aus den Angeln und flog mit einem ohrenbetäubenden Knall in den angrenzenden Flur.
„Was zur Hölle…“ Meine Hände zitterten. Irgendwie war ich super stark. Dass ich im Unterzucker unausstehlich werden konnte, das war mir bekannt. Auf meine Physis hatte sich das bisher aber noch nie ausgewirkt. Mit pochendem Schädel und dem nagenden Hunger verließ ich also das Gebäude, wobei ich jede Tür, die mich aufhalten wollte, mit Leichtigkeit aus den Angeln schlug. Die Welt draußen war still und einsam … Stimmt ja gar nicht! Es war stürmisch und regnete in Strömen, doch ich spürte weder die Kälte noch den Regen auf meiner Haut. Nur diesen quälenden Hunger.
Ich irrte ziellos durch die Straßen, mein Verstand so trüb, wie der Himmel über mir. Ein paar Teenager liefen tuschelnd und lachend an mir vorbei, einer von ihnen warf mir einen irritierten Blick zu, während ein Straßenhund winselnd das Weite suchte. Ein Taxifahrer fuhr bei meinem Anblick fast in ein parkendes Auto. Doch all das war jetzt nicht mein Problem. Nur dieser verdammte Hunger! Ich bog in eine dunkle Seitengasse ab, um den Blicken der Nachtschwärmer zu entkommen. Dort, in der schummrigen Ecke, hörte ich plötzlich eine raue Männerstimme.
„Hey, was haben wir denn hier?“
Ein paar Motorrad-Rocker traten aus den Schatten hervor, grinsend und mit Baseballschlägern bewaffnet. Sie bildeten einen Kreis um mich.
„Sieht aus, als hättest du deine Klamotten vergessen, du Freak!“, spottete einer der Biker und stieß mir mit seinem Schläger in die Seite. Der Schmerz war… nicht da. Nichts. Kein Schmerz. Nur Hunger. Ein paar Schritte entfernt sah ich einen blutenden Mann am Boden liegen. Wahrscheinlich das letzte Opfer der Gang. Er spuckte Blut und Zähne auf den Asphalt. Wieder traf mich ein Baseballschläger. Diesmal in die Magengrube. Wieder spürte ich den Schlag nicht. Doch die Biker hatten nun meine volle Aufmerksamkeit. Beim Anblick der Motorradtypen verstärkte sich mein Hunger ins Unermessliche. Plötzlich wurde alles rot.
Meine Wahrnehmung verzerrte sich. Die Gasse verschwamm, als würde ein roter Nebel über mein Hirn ziehen. Das Brüllen der Biker, Hilferufe, das Knistern des Regens – alles klang gedämpft. Der metallische Geschmack von Blut breite sich auf meiner Zunge aus und etwas Warmes floss meine Kehle herunter.
Als das Rot verschwand und meine Sinne sich klärten, war ich immer noch in der Gasse. Um mich herum lagen die Biker – reglos, ihre Körper in grotesken Winkeln verrenkt. Ihr Blut war überall, ihre Schädel zerschmettert und jemand hatte ihre Gehirne herausgerissen. Ich stand ganz still da, meine Hände voller Blut. Ein warmes, angenehmes Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Der Hunger war weg.
Das letzte Opfer der Biker, der blutende Mann am Boden, rappelte sich auf, blass wie eine Leiche. Er stürzte kreischend aus der Gasse und verschwand in der Nacht.
«Menschenfresser! Menschenfresser! Monster!», hörte ich ihn in der Dunkelheit brüllen. Ich starrte auf meine Hände. Die Erkenntnis sickerte langsam aber unaufhaltsam in mein Hirn.
Das war der Moment, in dem ich herausfand, dass ich ein menschenmordendes Monster war. Und dass ich offensichtlich einen Geschmack für die Gehirne der verkommenen und verdorbenen Subjekte in Haunted City entwickelt hatte. Ob diese Vorliebe etwas mit all der Pein und dem Mobbing in meinem Leben zu tun hatte? Eine wirklich gute Frage. Vielleicht verhielt sich das auch einfach nur so, wie mit Süßigkeiten und Junkfood. Das Zeug ist zwar schlecht für dich, aber es schmeckt einfach so verdammt gut!
Nach einigen Sekunden fand ich wieder zu mir und krallte mir die Klamotten eines meiner Opfer. Ich pickte mir einfach den größten aus der Gruppe heraus. In wenigen Sekunden schlüpfte ich in die hohen Springerstiefel, eine Biker-Weste mit übertriebenen Nieten-Applikationen auf der Schulter und in eine zerrissene Jeans.
Passte alles wie angegossen. Und es war bestimmt besser Kleidung zu tragen, als weiter nackt durch den Regen zu stapfen. Nicht, dass ich mich auch noch erkältete. Sicher ist sicher! Nun war ich also nicht nur ein Mörder und Kannibale, sondern auch ein Dieb. Seltsam, irgendwie war das alles okay für mich. Aber wartet erstmal ab, bis ich das erste Mal in einen Spiegel blicken sollte. Der Nervenzusammenbruch würde schon früh genug kommen.
Fortsetzung folgt…